Testen, Testen, Testen: Wie Experimente des »Taktischen Urbanismus« die Bürgerbeteiligung aufmischen

Experimentieren und Ausprobieren im Stadtraum macht Orte erlebbar. Wir zeigen, was das für Bürgerbeteiligung heißt.

Taktischer Urbanismus

Planfeststellungsverfahren, vorbereitende Untersuchungen, Sichtbeziehung, Planentwurf, Ausführungsplanung, Gehwegvorstreckung, Fußverkehrsstrategie: Das sind typische Begriffe aus der Fachplanung. Aber wer – jenseits eines auserwählten Expertenkreises – versteht diese Ausdrücke schon? Verlieren viele Menschen an dieser Stelle nicht schon die Lust am Mitmachen? Doch gerade im Bereich der Stadt- und Verkehrsentwicklung können die Hinweise und Ideen der Bürger*innen hilfreich sein. Deshalb entscheiden sich Politik und Verwaltung immer häufiger dazu, gemeinsam mit der Bürgerschaft solche Planungsprozesse zu gestalten. 
Aber wie kommen Fachplanung und Bürgerwissen am besten zusammen? Wie schaffen wir es, komplexe Fachprozesse so zu gestalten, dass die Bürgerinnen und Bürger mitgenommen werden und Lust haben, sich und ihre Ideen einzubringen?

Planungen kommunizieren: Durch Glossar, Erklärvideos und 3D-Visualisierungen?

Zunächst ist es natürlich möglich die oben genannten Fachbegriffe dem Bürger zu erklären. Man kann online ein Glossar anlegen oder FAQs (Häufige Fragen und Antworten) bereitstellen. Damit haben die Interessierten bereits die Möglichkeit sich zu qualifizieren und sich die Fachsprache anzueignen. Aber ist es notwendig bei der Gestaltung eines Parks, einer Straße oder eines Platzes zu wissen, was genau eine Fußgängerfurt ist oder wie ein Straßenquerschnitt zu lesen ist? Zwar kann es die Bürger*innen ermächtigen, den Planer*innen in ihrer Sprache zu begegnen. Eine Wissensasymmetrie bleibt jedoch. Aber nicht nur die Sprache, auch die Komplexität der Planungsprozesse ist für viele Menschen häufig schwer nachzuvollziehen. Immer häufiger werden daher Erklärvideos eingesetzt. In diesen kann in einfacher Sprache erklärt werden, was der Hintergrund und das Ziel eines Planungsprozesses ist. Videos von 2-3 Minuten sind ein guter Einstieg in ein Verfahren.
Doch was passiert, wenn Stadt –und Verkehrsplaner*innen ihre Karten, Pläne und Modelle im Saal ausbreiten? Auf diesen sind Zeichnungen, Begriffe und Symbole erkennbar, meist in einem hohen Abstraktionsgrad. Wie bleiben die Bürger*innen hier am Ball? Planungsbüros arbeiten verstärkt mit 3-D-Visualisierungen Ihrer Ideen. Durch Videovisualisierungen können z.B. Straßenvarianten, Streckenverläufe oder mögliche Bauprojekte erfahrbar gemacht werden. Die Bürger*innen können 3D-Brillen aufsetzen und dadurch erleben, an welcher Stelle der Straße eine Ver-engung oder eine Ampel geplant ist, oder wo die Fahrräder zukünftig entlangfahren könnten. Obwohl durch dieses visuelle Erleben Planungen nachvollziehbarer gemacht werden können, verharrt man im Virtuellen, im Hypothetischen. Jede Vor-abplanung bleibt ein Stück weit unwirklich und irreal: Essentielle Sinne wie Riechen, Fühlen, Hören bleiben außen vor. Eine Stadt ist aber mehr als »nur ein Bild« – und die beste Vorausschau kann nie den Praxistest ersetzen. Um wirklich beurteilen zu können, ob eine Straßenumgestaltung funktioniert, muss man sie mit allen Sinnen erleben. Oft entwickeln sich Dinge anders, wenn eine Intervention stattfindet. Lauf- und Fahrwege sind anders als gedacht, Sitzbänke werden an dieser oder jener Stelle nicht angenommen. Auch das beste Planungsbüro kann sich gegen solche unvorhersehbaren Entwicklungen nicht wappnen. Wenn es also immer schwieriger wird, die Auswirkungen konkreter Planungen in Städten bereits mit-telfristig einzuschätzen, warum tut man das dann überhaupt noch? Gibt es über-haupt Möglichkeiten, Planungen so »real« zu gestalten, dass sie erfahrbar werden und gleichzeitig noch genug Offenheit für echte Mitsprache bieten? Eine Antwort auf diesen Gordischen Knoten können wir im »Taktischen Urbanismus« finden.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es: Taktischer Urbanismus als neue Bewegung

In Ländern wie den USA oder Brasilien macht der Trend des »tactical urbanism« (vgl. Lydon/ Garcia 2015) bereits die Runde. Aktivist/innen aus der Zivilgesellschaft waren die ersten, die neue Ideen einfach auf die Straße gebracht haben. Denn vor Ort vermissen Bürger*innen Fahrradwege oder beschweren sie sich über schlechte Luft und Lärm. Sie beklagen die Verwahrlosung der Innenstädte oder öffentlichen Plätze, die eher Un-Orte denn Wohlfühl-Orte für alle sind. Da Politik und Verwaltung aus Sicht dieser Bürger*innen untätig bleiben – und andere Stimmen in der Stadt kritisch ob der Veränderung sind – schreiten  sie eigen-mächtig zur Tat: »Guerilla-Gärtner*innen« bepflanzen Straßen und Plätze mit Blumen und Sträuchern, andere markieren Radwege auf Hauptstraßen, um sichere Verbindungen für Radler*innen zu schaffen. 

Parklets in San Francisco

 

Mancherorts sind solche Aktionen zur einzigen Hoffnung auf Umwandlung unwirtli-cher Orte geworden. Sie fügen sich nahtlos in der Trend des Do-It-Yourself ein, der in den letzten Jahren auch im »Stadtmachen« (oder engl. »place making«) Ein-zug gehalten hat. In Europa ist zum Beispiel der alljährliche »Park(ing) Day« bekannt. Dabei »besetzen« Engagierte Parkplätze für einen Tag und funktionieren sie zu kleinen Parks um. Eines der bisher größten Place-Makings durch US-amerikanische Bürger*innen gab es 2010 in Memphis, Tennessee: Ein Wochenende lang bemalten, reparierten und bepflanzten 13 000 Freiwillige eine Einkaufsstra-ße und deren Häuser, um den ehemaligen Mittelpunkt ihres Ortsviertels wieder attraktiv zu machen. Mit Erfolg: Auf der Broad Avenue flanieren heute wieder Anwohner*innen ebenso wie Besucher*innen. Aus kurzfristigen Interventionen wurde so der Ort langfristig zum Positiven verändert (vgl. Livable Memphis 2016). Doch das Temporäre, Provisorische hat auch andere Qualitäten: Sobald man einen Radweg mit eigenen Augen sieht, wird er plastisch. Er kann befahren werden. Erst in diesem Ausprobieren kann man überprüfen, wie die neue Gestaltung angenommen wird: Wie verhalten sich die Autofahrenden? Wie steht’s um die Verkehrssicher-heit? Und wie groß ist eigentlich der Bedarf für neue Wege gerade auf dieser Route? Das Charmante am Taktischen Urbanismus ist die Reversibilität der Ent-scheidungen. Falls man entgegen vorheriger Annahmen merkt, dass die provisori-sche Planung nicht funktioniert, kann man nachjustieren. Bevor man Unsummen in dauerhafte Umbauten steckt, lassen sich Fehlentscheidungen so ohne großen Auf-wand korrigieren. Deswegen ist der Taktische Urbanismus nicht nur für »Akti-vist*innen«, sondern auch für Planungen der öffentlichen Hand interessant. 
Spannend wird es dann, wenn temporäre Umgestaltungen durch eine breite Beteili-gung der Öffentlichkeit begleitet werden. So kann man die Stimmen derer einfan-gen, die die »neuen Orte« am besten kennen: seiner Nutzer*innen. Menschen, die umgestaltete Plätze zum Verweilen nutzen, wissen, was bei ihnen gut ankommt und wo noch Verbesserungspotentiale bestehen. Und man kann ihre Kreativität und Ortskenntnis nutzen, um lokal verankerte, eigenwillige Lösungen für die unge-nutzten Potentiale öffentlicher Räume zu finden. 
Anhand zweier Praxisbeispiele aus Berlin und München möchten wir zeigen, dass der »Taktische Urbanismus« und Bürgerbeteiligung auch in Deutschland Hand in Hand gehen können. Wir möchten die Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung ermutigen, auch hierzulande neue Wege zu gehen.

Ein Verkehrsversuch in München: Die Fußgängerzone in der Sendlinger Straße

Die Sendlinger Straße in der Münchner Innenstadt ist eine stark frequentierte und beliebte Einkaufsstraße. Schon seit 2013 ist der nördliche Teil der Straße eine Fußgängerzone. Nun wurde auch der südliche Teil der Sendlinger Straße – erst einmal testweise – in eine solche umgewandelt. 
Der Autoverkehr wurde für ein Jahr vollständig aus der Sendlinger Straße verbannt, Radfahrende durften lediglich von 21:00 Uhr bis 9:00 Uhr die Fußgängerzone befahren. Um den Passant*innen noch eindrücklicher das Gefühl einer Fußgängerzone zu vermitteln und die Aufenthaltsqualität auf der nunmehr leeren Fahrbahn zu erhöhen, hatte die Stadt München zusätzlich an mehreren Stellen Hochbeete und Sitzgelegenheiten installiert.

Die Sendlinger Straße ist ein charakteristischer Ort Münchens. Die Entscheidung, hier eine Fußgängerzone einzurichten, ist deshalb ein sensibles Vorhaben. Um diesen stadt- und verkehrsplanerischen Eingriff sanfter und erlebbarer zu gestalten, hat sich der Münchner Stadtrat für den einjährigen Verkehrsversuch entschieden. Dabei wurde die Sendlinger Straße in dieser Zeit nicht sich selbst überlassen, sondern von einer umfassenden fachlichen Evaluierung und Bürgerbeteiligung begleitet. Diese Evaluierung stellte die verschiedenen Nutzergruppen der Sendlinger Straße in den Vordergrund. Mit mehreren Untersuchungen in Form von Ortsbegehungen mit Interessensvertretungen, Passantenbefragungen, Umfragen für Anwohner*innen und Gewerbetreibende sowie einer Bürgerwerkstatt wurde ein breites Bild über die Auswirkungen des Verkehrsversuches auf das Verhalten der Menschen in der Sendlinger Straße gezeichnet:

  • Wie verändert sich der Verkehr in den umliegenden Straßen?
  • Wie begegnen sich die Menschen auf den plötzlich frei gewordenen Flächen?
  • Wie machen sich die Menschen das neue Stück Stadt zu Eigen?

Bis Juni 2017 dauert der Verkehrsversuch an. Zur Halbzeit stellte das Planungsbüro die Ergebnisse der fachlichen Untersuchungen im Rahmen einer öffentlichen Informationsveranstaltung vor. In diesem Forum hatten interessierte Bürger*innen die Chance, noch einmal ihr Feedback zu dem Verkehrsversuch an sich und den Untersuchungsergebnissen an Politik und Verwaltung mitzugeben.
 
Die einjährige Testphase bringt Stärken und Schwächen der Fußgängerzone zum Vorschein. So ist für viele der Parkplatzmangel in der Münchener Innenstadt ein Problem, ebenso die eingeschränkte Zufahrtserlaubnis für Arztbesuche. Andere sorgen sich um die Immobilienpreise. Allerdings steigen die Miet- und Kaufpreise überall in der Münchener Innenstadt, unabhängig von dem Status als Fußgängerzone. Positiv erlebten die Befragten die neue urbane Qualität der Sendlinger Straße, die Ruhe, die Begegnungsmöglichkeiten sowie das verbesserte »Einkaufsklima« für Geschäfte und Gewerbe. Durch den Verkehrsversuch kann nun relativ unaufwändig und gut kommunizierbar nachgesteuert werden. Die endgültige Entscheidung über die Umgestaltung der Sendlinger Straße trifft der Stadtrat auf Grundlage der der Evaluierungsergebnisse voraussichtlich Mitte 2017.

Testphase mit reversiblen Modulen: Die Begegnungszone Bergmannstraße in Berlin

Die Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt hat sich vorgenommen, das Zu-Fuß-Gehen in der Hauptstadt zu stärken. Dazu wurden im Rahmen der Berliner Fußverkehrsstrategie mehrere Modellprojekte ausgerufen. Eines davon ist die Idee der so genannten »Begegnungszone«. 
Angelehnt ist dieses Modell an den Shared Space-Gedanken. Allerdings ist nach deutscher Straßenverkehrsordnung eine faktische Gleichwertigkeit aller Verkehrsteilnehmenden nicht vorgesehen. Aus diesem Grund enthält das spezielle Konzept der »Berliner Begegnungszone« mehrere Elemente der Verkehrsberuhigung zur Erhöhung der Aufenthaltsqualität. Ein Charakteristikum ist die Senkung der Höchstgeschwindigkeit des Individualverkehrs auf 20 km/h. Gleichzeitig werden die Sichtbeziehungen zwischen allen Verkehrsteilnehmenden so weit es geht verbessert, zum Beispiel durch den Wegfall von Parkständen. Diese behindern gerade Fußgänger*innen beim sicheren Queren der Straße. Eine weitere Maßnahme ist die Verbreiterung der Gehwege mit verschiedenen Angeboten des Sitzens und Verweilens.
Das Pilotvorhaben in der Bergmannstraße wurde von einem umfangreichen Dialog- und Beteiligungsprozess begleitet. Bürger*innen konnten Bedürfnisse, Wünsche und Vorschläge zum Gestaltungskonzept sowie für die Nutzung der neu geschaffenen Flächen sammeln.

 

Der Prozess gliederte sich in zwei Dialogphasen. Die erste Phase diente der Bestandsaufnahme. Was sind bereits heute wahrgenommene Probleme in der Bergmannstraße und was sind liebens- und erhaltenswerte Merkmale? In einer Auftaktveranstaltung und einem Online-Dialog mit einer kartenbasierten Vorschlagseingabe (Crowdmapping) konnten alle Interessierten ihre persönlichen Analysen setzen. So wurden schnell »Hotspots« in der Bergmannstraße identifiziert, die der genaueren Bearbeitung bedürfen.
In der zweiten Phase wurde konkreter über Varianten der Straßenaufteilung diskutiert. Das Planungsbüro LK Argus hatte auf Grundlage der Beteiligungsergebnisse unterschiedliche Szenarien vorgeschlagen, von einseitig breiteren Gehwegen über eine Verschwenkung der Fahrbahn hin zu zweiseitig breiteren Gehwegen. Als Beteiligungsgedächtnis stand eine Online-Plattform mit Diskussionsmöglichkeit bereit. Der Online-Dialog wurde von zwei Bürgerwerkstätten komplettiert. Eine davon war offen für alle Interessierten, die andere Werkstatt fand mit zufällig ausgewählten Bürger/innen aus der Nachbarschaft der Bergmannstraße statt.

Parklets für die Bergmannstraße?

 

Das Modellprojekt der Begegnungszone erntete während der ersten zwei Beteiligungsphasen gemischte Reaktionen, zum Teil auch heftigen Gegenwind durch einen Teil der beteiligten Bürger*innen. Es wurde sehr deutlich, dass sich die Anwohner*innen, Gewerbetreibende und Besucher*innen der Bergmannstraße stark mit dem Kiez identifizieren. Ein großer verkehrlicher Eingriff erschien deshalb einigen Teilnehmenden bedrohlich. Vor diesem Hintergrund ist die Konzeptidee einer Testphase geboren. Die Berliner Senatsverwaltung ist auf Grundlage der Beteiligungsergebnisse von der ursprünglichen Prozessplanung abgewichen. In einer vorgeschalteten, etwa 1½-jährigen Testphase werden nun Begegnungsmodule, bestehend aus verbreiterten Gehwegen mit Sitzgelegenheiten, Fahrradabstellmöglichkeiten und Lieferzonen, temporär installiert. Ganz im Sinne des taktischen Urbanismus können diese zur Erprobung in der Praxis installierten Module einfach und ohne viel Aufwand rückgebaut werden. 

So kann die Bergmannstraße in der Testphase aussehen

 

Um überhaupt Prozesse so dynamisch gestalten zu können und auf Veränderungen reagieren zu können, muss eine enge fachübergreifende Zusammenarbeit zwischen Verwaltung, Fachplaner*innen und Beteiligungsexperten stattfinden. Eine gemeinsame Beteiligungskultur bzw. ein grundlegendes Verständnis bei den Fachplaner*innen ist ein wichtiges Element, um als Projektteam gemeinsam an einem Strang ziehen zu können.
Auch während der Testphase ab Sommer 2017 ist die Fortsetzung der Bürgerbeteiligung vorgesehen. Die Bewertung der getesteten Module aus Sicht der Nutzer*innen ist von wesentlicher Bedeutung für die weitere Planung. Ob die Begegnungszone Bergmannstraße auf Basis der Ergebnisse der Testphase fortgeführt wird, darüber entscheidet wiederum die Bezirksverordnetenversammlung nach Ende des Versuchs.

Probiert es aus!

Das Experimentieren und Ausprobieren im Stadtraum macht Orte erlebbar. Anstelle von abstrakten Planungsdokumenten erhalten alle Stadtmacher*innen so eine bessere Vorstellung, wie sich der umgestaltete Platz oder der neue Weg anfühlt. Und man kann sogar noch weitergehen: Öffentliche Orte lassen sich auch gemeinsam gestalten. Sitzbänke können von Kindern bemalt werden, Graffiti-Künstler*innen werden kreativ, um Toilettenhäuschen zu besprühen und die Nachbarn finden sich zusammen, um für die neu angelegten Hochbeete zu sorgen. Der »Taktische Urbanismus« in Partnerschaft mit Partizipation und Ko-Kreation, also einer gemeinsamen Gestaltung des Raumes durch die Menschen vor Ort, hat noch eine große Zukunft vor sich. Wir möchten allen Skeptiker*innen zurufen: »Probiert es aus!« Wer den Mut aufbringt, die Dinge »einfach mal zu machen«, der wird belohnt werden.
 

Dieser Beitrag wurde von Jan Korte verfasst.

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